1. Juli 2019 dominique roth

Kernfusionsforschung in Greifswald

Der Sonne so nah

Energie nach dem Vorbild der Sonne: Am MaxPlanck-Institut für Plasmaphysik steht der derzeit größte und fortschrittlichste Fusionsforschungsreaktor der Welt. Kann die Kernfusion unsere Energieproduktion revolutionieren?

Eigentlich wäre er lieber woanders gelandet. Im Süden, wo es Berge gibt. „Ich bin nicht so der Meeresliebhaber“, gibt Ralf Kleiber zu. „Dass ich hier bin, ist eher Zufall.“ Er habe sich beim Max-Planck-Institut für Plasmaphysik (IPP) beworben, ohne auf den Ort zu schauen, der auf der Stellenausschreibung stand. „Und das Bewerbungsgespräch hat ja in München stattgefunden“, erinnert sich der Physiker. „Das war für mich als passionierten Wanderer natürlich sehr attraktiv.“

Daraus wurde jedoch nichts. Und so tauschte Kleiber die Gipfel der Alpen gegen die Wellen der Ostsee und die turbulente Millionenstadt München gegen das beschauliche Greifswald. Allzu viel scheint es ihm nicht auszumachen. „Es ist eine nette Stadt“, betont Kleiber, „und durch die vielen Studenten ist auch immer was los.“ Und überhaupt, an seinem Institut habe er sowieso immer wieder mit vielen neuen Leuten zu tun. „Die kommen aus der ganzen Welt hierher, ein super internationales Team.“

Die Welt zu Gast in Greifswald. Der Grund dafür ist eine Anlage am Rand des 55000 Einwohner-Städtchens, an der Kleiber mit rund 30 anderen theoretischen Physikern forscht: Ein Kernfusionsreaktor. Genauer gesagt, der derzeit weltweit modernste Fusionsreaktor: Wendelstein 7-X. 450 Mitarbeiter hat das IPP dafür in die Hansestadt an der Ostsee gelockt. Neben den 30 Theoretikern auch Experimentalphysiker, Ingenieure, Handwerker und weitere Experten.

Zweck des ganzen Projekts ist nichts Geringeres als die Energieversorgung der Erde ein für alle Mal sicherzustellen. Denn dazu, davon ist hier nicht nur Kleiber überzeugt, braucht es wohl mehr als Windkraft- und Solaranlagen. „Der Gesellschaft ist das Ausmaß des Energieproblems noch nicht bewusst“, warnt der Physiker. „Allein schon, weil der Bedarf in den kommenden Jahrzehnten wohl weiter steigen wird.“ Außerdem gebe es trotz eventueller Speichersysteme für Strom aus erneuerbaren Energien immer die Herausforderung, dass Wind und Sonne nicht permanent zur Verfügung stehen. „Das wäre bei der Kernfusion anders“, erklärt Kleiber. „Trotzdem sehen wir uns hier nicht als Gegensatz zu den erneuerbaren Energien, sondern als Ergänzung.“

Dass Kleiber diese Meinung nicht exklusiv am Institut hat, beweist schon die Anfahrt zu dem signifikanten Gebäude mit dem wellenförmigen Dach: An der Abzweigung zur Einfahrt flattert ein schon etwas ausgeblichenes grünes Banner am Institutszaun mit der Aufschrift „Scientists for Future“. Bei dieser losen, bundesweiten Organisation handelt es sich um Wissenschaftler, die die politischen Proteste der Klimaaktivisten von „Fridays for Future“ unterstützen.

Drei Flaschen Wasser für drei Jahre Strom

Ohne Kernfusion gäbe es kein Leben auf unserem Planeten, denn die Fusion von Wasserstoff zu Helium setzt die Energie für die Sonnenstrahlung frei. 600 Millionen Tonnen Wasserstoff werden auf der Sonne jede Sekunde in 596 Millionen Tonnen Helium umgewandelt, diese spezielle Fusion nennt sich Proton-Proton-Reaktion.

Nun sind die Bedingungen der Sonne nicht ohne Weiteres übertragbar auf die Erde. Dadurch kann diese Proton-Proton-Reaktion nicht unter irdischen Bedingungen nachgestellt werden. Allein die Dichte der Atomkerne in der Sonne ist extrem schwer künstlich herzustellen. Außerdem müssen für die Fusion der Atome hohe Temperaturen von mehreren Millionen Grad in dem Reaktor vorherrschen. Daher behelfen sich die Experten mit einer abgewandelten Kernfusion: der Deuterium-Tritium-Reaktion, die etwas einfacher herzustellen ist.

Kleiber ist kein Lautsprecher. Dadurch wirkt es ab und an noch imposanter, wenn der theoretische Physiker in nüchternem Ton ein paar Fakten zusammenstellt. Er – hager bis sportlich, Typ Marathonläufer – wirft eine Folie aus seiner Präsentation an die Wand. Darauf zu sehen sind drei Plastikflaschen stilles Wasser und ein alter Laptopakku. „Damit“, zeigt er auf das Bild, „kann eine Familie ihren Strombedarf für drei Jahre decken.“ Das Deuterium, ein natürliches Wasserstoffisotop, sowie das Lithium aus dem Akku reichten dafür aus.

Zwei Varianten des Fusionsreaktors möglich

Seit 70 Jahren forschen Wissenschaftler bereits an dieser Deuterium-Tritium-Reaktion. Anfang der 1950er-Jahre begannen Physiker in den USA, in Großbritannien und in der Sowjetunion unabhängig voneinander, am Prinzip der Kernfusion zu forschen. In Princeton erarbeitete Lyman Spitzer den ersten Stellerator, auf dessen Basis auch der Wendelstein 7-X in Greifswald aufgebaut ist. Dabei wird in einer ringförmigen, in sich selbst gewundenen Anlage ein auf 150 Millionen Grad erhitztes Wasserstoff-Plasma hergestellt und von außen mit kompliziert angeordneten Magnetspulen eingeschlossen. Schematisch erinnert das Ganze an ein verdrilltes Gummiband, in dem laut Kleiber bereits seit 2015 Plasmen erzeugt werden. „Energie werden wir hier allerdings nicht produzieren“, stellt der Physiker fest. „Wendelstein 7-X soll zeigen, dass die Konstruktion machbar und für einen Langzeitbetrieb geeignet ist.“

In der Sowjetunion hingegen entschieden sich damals Andrei Sacharow und Igor Tamm für ein anderes Modell, den Tokamak. Diese Variante sieht vor, das Magnetfeld dadurch zu erzeugen, dass der Strom auch direkt im Plasma fließt. Wie sich im Laufe der Jahre herausstellte, hat dieses Tokamak-Prinzip einige Vorteile gegenüber dem Stellerator. „Insbesondere der Bau ist nicht so kompliziert“, bestätigt Ralf Kleiber. Er verspricht sich daher auch viel vom derzeit größten Projekt der Kernfusion in Südfrankreich. ITER heißt es, abgekürzt für „Internationaler Thermonuklearer Experimental Reaktor.“ Seit 2007 wird es in einem Kernforschungszentrum nordöstlich von Marseille gebaut, im Jahr 2025 soll dort das erste Plasma hergestellt werden. Anders als bei Wendelstein 7-X soll es dabei jedoch nicht bleiben. Hier soll einmal die erste Kernfusion erfolgen, die mehr Energie liefert, als für das Erhitzen des Plasmas nötig ist.

„Auch wir in Greifswald fiebern da mit unseren Kollegen mit“, sagt Ralf Kleiber, „obwohl wir an zwei unterschiedlichen Konzepten forschen.“ Letzten Endes, so Kleiber weiter, gehe es bei beiden Projekten darum, so viele Erkenntnisse wie möglich zu gewinnen, um später aus der Kernfusion einen wirtschaftlichen Energieträger zu machen. „Darüber hinaus sind durchaus auch Kombinationen aus Stellerator und Tokamak möglich.“

Auch Kernforschung drastisch unterfinanziert

Das riesige, meterdicke Schiebetor aus Beton steht offen. Ralf Kleiber läuft wie selbstverständlich hindurch, nachdem er sich seinen Sicherheitshelm aufgesetzt hat. Dahinter befindet sich eine mit Schläuchen, Rohren und Kabeln übersäte Kugel, die aussieht wie eine Weltraumkapsel. Um sie herum wurden Edelstahlgerüste angeordnet, ähnlich denen beim Bau – nur sauberer. Auch auf der Oberfläche der Kugel selbst sind überall kleine Wege angelegt, mit Pritschen und Planken aus Holz. Sie verleihen diesem futuristisch aussehenden Koloss einen letzten Charme der Improvisation. „Hier wird gerade umgebaut“, stellt Ralf Kleiber klar. Für die vielen unterschiedlichen Experimente bräuchten er und seine Kollegen immer wieder neue Komponenten und Anordnungen. Das dauert: Für den jetzigen Umbau seien zwei Jahre veranschlagt. „Und dann können wir wieder drei Monate lang experimentieren“, schmunzelt Kleiber.

Allerdings, betont er gleich im Anschluss, müssten die Daten, die in diesen drei Monaten anfallen, ja auch aufbereitet und analysiert werden, bevor die nächste Experimentierphase beginnen kann. „Und da kommen wir eigentlich gar nicht hinterher“, meint er knapp. „Gerade für die Aufbereitung der Rohdaten könnten wir mehr Leute brauchen.“

Ein realistischer Zeitraum für wirtschaftlich arbeitende Fusionsreaktoren sei die zweite Hälfte des Jahrhunderts, stellt Kleiber in Aussicht. „Wir könnten auch früher“, will er seine Prognose nicht falsch verstanden wissen, „wenn der politische Wille da wäre und wir mehr Geld zur Verfügung hätten.“ Mit den aktuellen Mitteln sei es aber nicht früher zu schaffen. Außerdem wisse er auch, dass das Thema Kernenergie gerade in Deutschland immer noch sehr ideologisch aufgeladen ist. „Wir standen schon einmal kurz vor dem Aus“, erinnert sich Kleiber, als es beim Bau von Wendelstein 7-X Verzögerungen gab.

Heutzutage ist die Finanzierung des Projekts relativ stabil, auch weil Wendelstein 7-X inzwischen international anerkannt ist. Finanziert wird die Anlage vom Bund, vom Land Mecklenburg-Vorpommern und der EU. Darüber hinaus gibt es mit Japan und den USA weitere Kooperationspartner.

Atommüll nach 100 Jahren unbedenklich

Wie bunt und international es hier zugeht, wird schon vor dem Gebäude deutlich. Auf dem Parkplatz wechseln sich Autos mit Wiesbadener, Hamburger und Euskirchener Nummernschildern ab – also die Kommunen, in denen große Mietwagenfirmen ihre Autos zulassen. Und auch an der Pinnwand hinter dem Konferenztisch, an dem Kleiber sitzt, wird die globale Dimension der Anlage sichtbar. Postkarten aus der ganzen Welt finden sich dort.

Kernfusionsanlagen sind nicht zu verwechseln mit den herkömmlichen, gerade in Deutschland viel diskutierten Atomkraftwerken, die auf dem Prinzip der Kernspaltung basieren. „Kernfusion ist im Gegensatz zur Spaltung ein passiv sicheres Prinzip“, gibt Kleiber Entwarnung. Ein GAU wie in Fukushima oder Tschernobyl sei bei einem Fusionsreaktor aus mehreren Gründen gar nicht möglich.

Zunächst einmal werde bei einem Störfall laut Kleiber der Fusionsprozess sofort beendet. Auch die Nachzerfallswärme würde – selbst wenn kein Kühlmittel vorhanden ist – im Gegensatz zur Kernspaltung nicht den Schmelzpunkt von Stahl überschreiten, wodurch keine Gefahr einer Kernschmelze besteht. „Überhaupt“, wird der Theoretiker grundsätzlich, „fällt bei der Kernfusion für sich gesehen kein radioaktiver Müll an.“

Dennoch entsteht auch bei der Kernfusion strahlendes Material. „Das liegt daran, dass die Fusion in einer Röhre aus Stahl stattfindet“, bestätigt Kleiber. Und die werde mit der Zeit radioaktiv. „Aber“, betont der Physiker, „hier sprechen wir von deutlich kürzeren Lagerzeiten als bei der Kernspaltung.“ Mit speziellem Vanadiumstahl müssten die entsprechenden Teile nur 500 Jahre sicher gelagert werden. „Dann“, fügt er hinzu, „hat der Stahl eine niedrigere Strahlenbelastung als Kohleasche – vor der auch niemand Bedenken haben muss.“ Für den alten Stahl eines Fusionsreaktors brauche man folglich keine Endlager, schließt Kleiber. „Da reichen die Zwischenlager, die wir bereits haben, locker aus.“

Für ihn gebe es daher kaum einen Grund, auf diesen Energieträger zu verzichten. „Wenn wir die Hürden gemeistert bekommen“, ist sich Kleiber sicher, „können wir das Problem des wachsenden Energiebedarfs auf der Erde lösen.“